A. Ehrensperger: Geschichte des Gottesdienstes

: Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Basel im 16. und 17. Jahrhundert. . Zürich 2010 : Theologischer Verlag Zürich, ISBN 978-3-290-17543-6 256 S.

: Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Bern im 16. und 17. Jahrhundert. . Zürich 2011 : Theologischer Verlag Zürich, ISBN 978-3-290-17594-8 356 S.

: Der Gottesdienst in der Stadt St. Gallen, im Kloster und in den fürstäbtischen Gebieten vor, während und nach der Reformation. . Zürich 2012 : Theologischer Verlag Zürich, ISBN 978-3-290-17628-0 502 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Fries

Vorliegende drei Bände zur «Geschichte des Gottesdienstes in den evangelisch-reformierten Kirchen der Deutschschweiz» sind die erste Frucht des höchst ambitionierten, auf sieben bis acht Bände angelegten Projekts zur Erschliessung der Geschichte des Gottesdienstes in den deutschsprachigen, eidgenössischen Orten vom 13. Jahrhundert bis ca. 1700; die Herausgabe erfolgt durch das Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte an der Universität Zürich. Dass der Gottesdienstkultur bei Untersuchungen zu den protestantisch-reformatorischen Bewegungen bislang meist wenig Beachtung geschenkt wurde, obwohl gerade die gottesdienstlichen Feiern vorrangige Orte zur Einführung reformatorischer Massnahmen waren, darauf wird im Geleitwort von Prof. Peter Opitz (Institut für Reformationsgeschichte der Universität Zürich) verwiesen und zugleich die mit diesem Projekt verbundene Intention unterstrichen (Bd. 1, 11). Vf. untersucht in grosser Ausführlichkeit, sorgsam und gründlich unter Berücksichtigung der umfangreichen und in ihrer Fülle kaum wiederzugebenden Sekundärliteratur die Reformationsbewegungen und die damit verbundenen Vorgänge aus der Perspektive des gottesdienstlichen Lebens unterschiedlicher Orte und Gebiete der Eidgenossenschaft anhand von Quellenmaterial unterschiedlichster Art und Urheberschaft, um möglichst umfassend die zeitgeschichtlichen Umstände einzufangen und die «für jeden eidgenössischen Ort recht eigenständige Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte» (Bd. 2, 13) aufzuzeigen. Vf. weist darauf hin, dass die eigenständige Reformationsgeschichte eidgenössischer Orte «im deutschsprachigen Raum in der Forschung bisher zu wenig beachtet wurde und oft zu unverzeihlich pauschalen und teils verzerrten Urteilen geführt hat» (Bd. 3, 13). Zum Erweis der These setzt die Untersuchung, entgegen der Betitelung (16./17. Jahrhundert!) bereits im 13. Jahrhundert an und führt bis um 1700 weiter. Die offenkundig im Laufe der Arbeit gewachsene Erkenntnis, dass die Reformation und ihre Auswirkung in der Eidgenossenschaft (die Bezeichnung «Schweiz» wäre hier auf die betrachtete Zeit bezogen unzutreffend, was beim Untertitel der Reihe – Geschichte des Gottesdienstes in den evangelisch-reformierten Kirchen der Deutschschweiz – etwas irritiert!) ein sich über längere Zeit ankündigender und nachwirkender Prozess und keine reine Durchgangsbewegung war, ist Grund dafür, dass die Vor- und Nachgeschichte einbezogen wurden und die Auswahl des Quellenmaterials über konfessionelle Grenzen hinaus reicht. Vf., der mit der Arbeit «Die Theorie des Gottesdienstes in der späten deutschen Aufklärung: 1770–1815 (Zürich, TVZ 1971)» promoviert wurde, mehrfach und intensiv liturgiehistorisch gearbeitet hat und selbst ehedem als reformierter Pfarrer in der Deutschschweiz tätig war, betont, dass es zwischen reformatorischer Gottesdienstund Frömmigkeitsgeschichte in der Eidgenossenschaft und in Deutschland vielerlei Unterschiede gibt, zudem die vorreformatorischen Gottesdienstentwicklungen innerhalb und ausserhalb der Klöster stärker zu berücksichtigen ist. Gerade darin ist ein Plus des breiten Untersuchungszeitraums zu sehen, dass nämlich die spätmittelalterliche Kloster- und damit einhergehende Gottesdienstkultur von den Quellen her zur Sprache kommen und Reformations- und Gegenreformationsbewegungen in der Eidgenossenschaft klarer von ihren Ursprüngen und aus den Kontexten heraus erfasst werden können. In vorliegenden Bänden werden Basel Stadt und Landschaft (Bd. 1), Bern Stadt und Landschaft (Bd. 2) und St. Gallen Kloster und fürstäbtische Gebiete (Bd. 3) behandelt. In Bd. 3 wird bereits Bd. 4 angekündigt, der die Gottesdienstkultur im Appenzellerland, Sarganserland/Werdenberg und Gaster vor, während und nach der Reformation behandeln wird und mit dessen Erscheinen 2013, spätestens 2014 zu rechnen ist.

Als Quellen dienen «Alte Drucke, offizielle und private Liturgiebücher, Agenden [...], Zeitchroniken» (Bd. 2, 15), «Synodalberichte, Prädikatenordnungen, Einzelschriften mit liturgischen Themen, Kontroversliteratur, Einzelabschnitte aus grösseren Werken, Akten- und Urkundensammlungen und obrigkeitliche Mandate zu Gottesdienstfragen [...] Literatur aus spätmittelalterlichen liturgischen Traditionen (besonders der Klöster) [...] Dokumente zur Rezeption der Gottesdienstreformen und -praxis während und nach der Reformation bis ca. 1700» (Bd. 1, 13) unter Konsultation zahlreicher Archive und Bibliotheken; dies alles mit Blick darauf, die «effektive Liturgiepraxis und vor allem die Fragen der Rezeption des Gottesdienstes durch das Kirchenvolk in Erscheinung treten » (Bd. 2, 16) zu lassen. Aufgrund seines im Laufe der Jahre gewachsenen Kenntnisschatzes rund um die Liturgie- und Reformationsgeschichte vermag Vf., Jahrgang 1933, das gesichtete umfangreiche Material adäquat einzuordnen und im Laufe der Arbeiten aufgetretene Forschungsdesiderate aufzuzeigen. So geht er in Bd. 2 hinsichtlich Bern – auf andere Orte bezogen mag dies nicht unähnlich sein – auf die im Zuge des Quellenstudiums beschränkte Aussagekraft hinsichtlich weiterhin bestehender Fragen ein, die durch zu vertiefende Forschung zu erhellen wären: «Wie sind obrigkeitliche Mandate zu Gottesdienstfragen aufgenommen und durchgesetzt worden? Wo und warum ergaben sich Widerstände an einzelnen Orten, an anderen wieder nicht? Was ist durch das Reformationsmandat von 1528 tatsächlich aufgehoben oder verändert worden? [...] Warum war die Abschaffung der Messe sehr verschieden gehandhabt worden? [...]» (Bd. 2, 16). Ausdrücklich verweist Vf. auf die notwendige Begrenzung der Untersuchung aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Bewältigung des Quellenmaterials, so dass «die nicht deutschsprachigen Gebiete, in denen ebenfalls Reformationsbewegungen mit den dazugehörigen Gottesdiensterneuerungen stattfanden (Wallis, Freiburg i.Üe., Waadt, Genf, Graubünden)» (Bd. 1, 13) ausdrücklich nicht behandelt werden. Ob trotz dieser Ansage mit einem achten Band zum Glarnerland und den kurzen reformatorischen Phasen im Wallis, Luzern, Zug, Freiburg und Solothurn gerechnet werden darf, hängt nicht zuletzt mit dem weiteren Vorankommen der Bände 5–7 ab. Vom Vf. selbst sind bislang in Aussicht gestellt Bd. 5 zum Gottesdienst in Zürich Stadt und Landschaft vom 12. Jahrhundert bis 1531 (bis zum Tod Zwinglis), Bd. 6 zum Gottesdienst in Zürich Stadt und Landschaft von 1532 bis über 1700 wie auch Bd. 7 zum Gottesdienst in Schaffhausen Stadt und Landschaft und im Thurgau. Die Komplexität der Materie, Unterschiede im Materialumfang und die jeweiligen regionalen Eigenheiten werden bereits bei der Aufteilung der Bände deutlich. Gerade daran wird ersichtlich, dass die Geschichte der Reformation sich nicht in ein einheitliches Schema fassen lässt. Dass die Behandlung von Graubünden aufgrund der historischen Komplikationen der politischen Verhältnisse, der besonderen Herausforderung der Mehrsprachigkeit und der Fülle der Quellen aussen vor bleibt, ist vollauf verständlich. Als Ziel seiner Arbeit nennt Vf. neben dem historischen Interesse den Gegenwartsbezug, so dass seine Arbeiten mit «dazu beitragen, heutige Probleme rund um die Gottesdienstszenarien von der historischen Entwicklung her klarer und kompetenter erkennen und sachgemäss lösen zu können» (Bd. 2, 13). So wird u.a. als wichtige lebensbezogene Frage im Kontext der Reformationsbewegung, die auch Relevanz für den heutigen ökumenischen Annäherungsprozess besitzt, von Vf. – hier auf Bern bezogen – benannt: «Was bedeutet es für den Glauben des damals so genannten ‹gemeinen Mannes›, dass an die Stelle der Messe der Predigtgottesdienst und nicht ein regelmässig gefeiertes, ‹reformiertes› Abendmahl trat?» (Bd. 2, 16). Gelungen beleuchtet Vf., immer wieder unter Einbezug der Quellen, den (kirchen-)geschichtlichen Kontext und die politischen und sozialen Rahmenbedingungen, die verstehen helfen, wie es an einigen Orten stärker, an anderen Orten weniger stark oder gar nicht zu Reformen im kirchlichen Leben kommen konnte (in dieser Systematik eindrücklich v.a. in Bd. 1, 15–108; Bd. 3, 15–25.141– 167). So kommt auch die vorreformatorische Frömmigkeitspraxis zur Sprache, die zwar aus der Zeit heraus zu verstehen, aber dennoch ernüchternd ist, gerade, wenn es um quellenbasierte Fragen liturgischer Teilnahme geht (z.B. im Toggenburg: «Der Besuch der sonntäglichen Messe war für die meisten Gläubigen seit Generationen eine Selbstverständlichkeit. Da man das verbale Geschehen wegen des Lateins der Priester ohnehin nicht verstand, war man umso mehr interessiert am Reichtum an Zeremonien. [...] Üblich war die einmal jährliche Kommunion an Ostern. Wer öfters kommunizieren wollte, wurde von den Dorfbewohnern bald einmal der Ketzerei verdächtigt. [...] Das Verhalten der Kirchgänger/-innen war gemäss vielen Zeugnissen äusserst undiszipliniert. Man scherzte und schwatzte, während der Priester am Altar sein unverständliches, aber geheimnisvolles Amt ausübte. Viele kamen zu spät und verpassten den ohnehin uninteressanten, meist kurzen Wortgottesdienst (Vormesse) der Eucharistie [...]. Nicht selten wurden auch Hunde in die Kirche mitgenommen. Wichtig war einfach, dass die Zeremonien stimmten; auch für die Priester war die Beachtung der Rubriken (vorgeschriebene Gebärden) wichtiger als das Lesen der ohnehin immer gleichen Messtexte.»; Bd. 3, 30). So erhellend der Blick auf die vorreformatorische Gottesdienstpraxis anhand der möglichst authentischen Rekonstruktion durch Quellenstudium sein mag, ist es wichtig, dass Vf. auch auf Begriffe und Konzepte, die für das christliche Leben und die kirchliche Organisationskultur besonders seit dem Mittelalter von Bedeutung waren, eingeht und sie aus der jeweiligen Zeit heraus mit Rückgriff auf historische Quellen erläutert, so etwa «Fegefeuer (Purgatorium)» und «Ablass» (Bd. 3, 51–56), «Bittgänge und Wallfahrten» (Bd. 2, 106–107); oder «Klerus und Pfründen» (Bd. 3, 33–35). Besonders hervorzuheben sind in den einzelnen Bänden zudem: In Bd. 1 wird die Auseinandersetzung mit den Wiedertäufern recht ausführlich behandelt (86–99). In Bd. 2 darf als gelungen hervorgehoben werden, dass eine Skizzierung der «Wegbereiter der Reformation» (109–123) und ein Einblick in den «Pietismus» gewährt wird (247–255), der stärker im 18./19. Jahrhundert Relevanz erhält und daher in vorliegenden Studien nicht mehr behandelt wird. In Bd. 3 kommt eine bisher unveröffentlichte Neuentdeckung zum Vorschein: Waren bisher aus St. Gallen Land und Stadt aus dem 16. Jahrhundert keine Kirchenordnungen und Agenden mehr vorhanden und lediglich eine Kirchenordnung von 1659 und 1685 bekannt, kann Vf. auf 326–258 den Inhalt einer bislang der Öffentlichkeit nicht bekannten Taschen-Kirchenordnung aus dem Jahr 1663 wiedergeben. Vf. versteht es auch hier, Frömmigkeitsgeschichte lebendig werden zu lassen, da der Blick in Gebetssprache zugleich Einblick in die Vorstellungswelten des christlichen Glaubens und in die gelebte und vermutlich so praktizierte Frömmigkeit liefert. In allen vorliegenden Bänden werden auch Sachverhalte zum Sakramentsverständnis und zum Predigtverständnis der Reformatoren thematisiert, was gerade mit Blick auf immer noch anstehende theologische Klärungen im interkonfessionellen Gespräch der Gegenwart von Interesse ist (so etwa in Bd. 1, 190– 196, 201–221, 226–228; Bd. 2, 305–308, 313–320; Bd. 3, 359–366). Der Absicht, sich an breites Publikum zu richten und «nicht nur an Fachleute beider Konfessionen aus den Gebieten der Geschichts- und Liturgiewissenschaft, sondern auch an Studierende, an Theologinnen und Theologen, an Kirchenbehörden und Kirchgemeinden und die für den Gottesdienst Verantwortlichen sowie an eine an den Wurzeln evangelisch- reformierter Liturgietradition interessierte Leserschaft» (Bd. 1, 14) ist ambitiös und mag angesichts oftmals üblicher Darbietungen wissenschaftlicher Erkenntnisse vermessen klingen, kann hier aufgrund der Präsentation der Thematik, der gelungenen Quellendarstellung und wegen des Verzichts auf lateinische Zitate und auf ausufernde Sekundärliteratur wie auch durch die Leserfreundlichkeit in Sprache und Struktur wirklich gelingen. Der Zugriff auf interessierende Themen ist dank der wohl geordneten und verständlichen Inhaltsverzeichnisse und der Namensregister in allen drei Bänden gut möglich, wobei ab Bd. 2 für das Inhaltsverzeichnis eine der Lektüre zugänglichere Formatierung gewählt wurde. Mit vorliegenden und zu erwartenden Publikationen des Projekts wird in der Tat ein wichtiger Beitrag geleistet, auf Grundlage der Quellen Reformationsgeschichte konfessionsübergreifend und aus liturgiehistorischer Sicht darzustellen, die «lex orandi» in gewisser Weise mit der «lex credendi» unter Achtung des sozio-kulturellen Kontexts und der gesellschaftlichen Entwicklungen als Gesamt zu betrachten und sachgemäss zu bewerten. Der Gefahr der Einseitigkeit entgeht Vf. durch ausgewogene Quellenaus wahl. Implizit lautet eine These, dass die Reformation als «relatives», also in einem bestimmten Kontext und in einer bestimmten Zeit sich ereignendes Phänomen gewesen ist, das nicht notwendigerweise zur Aufspaltung in kirchentrennende Konfessionen hätte führen müssen. So kündigt Vf. in Bd. 2 an: «Es wird sich zeigen, dass die ‹liturgische Reformation› nicht einen eindeutigen Schnitt in der Gottesdienstgeschichte bildete, sondern, mehr als bisher angenommen, auch eine gewisse Kontinuität vorhanden ist.» (Bd. 2, 13). So behandelt Vf. in Bd. 3 Teil 3 «exemplarisch wichtige und nachhaltige Verhärtungen im Prozess der Glaubensspaltung und Konfessionsbildung bis ca. 1700» (Bd. 3, 11). Als nachhaltigste Auswirkung der Reformationsbewegungen scheint hierbei bedeutsam, die Abschaffung der katholischen Messfeier hervorzuheben. Einigen Thesen und Fragen wäre aufgrund der Komplexität der Materie sicher noch weiter und differenzierter nachzugehen. Bereits erwähnte Forschungsdesiderate des Vf. und die von ihm selbst aufgezeigten lokalen Unterschiede weisen in diese Richtung. Die Publikationen bilden ein Mammutwerk eines Liturgiehistorikers in fortgeschrittenem Alter; für die Wissenschaft ist es ein Gewinn, dass die Reformationsgeschichte sich so eingehend mit der Gottesdienstkultur befasst und auf die Expertise des Vf. bauen darf; die Weitsicht des Vf. über die Konfessionsbildung hinaus tritt deutlich hervor; die Fertigstellung des Projekts ist sehr wünschenswert; ausstehende und aufgezeigte Forschungsdesiderate mögen wietere interessierte Wissenschaftler ansprechen und die Forschung voranbringen. Das Werk ist in der Tat in die Hände all derer zu empfehlen, die sich mit der eidgenössischen Reformationsgeschichte befassen wie auch für die heutige Gottesdienstkultur und den ökumenischen Dialog Verantwortung tragen und bereit sind, auf Grundlage der Geschichte kritische Anstösse für heutige Gottesdienstgestaltung zu erhalten. Bei aller Wissenschaftlichkeit sind diese Bücher spannend zu lesen.

Zitierweise:
Thomas Fries: Rezension zu: Alfred Ehrensperger, Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Basel im 16. und 17. Jahrhundert, Zürich, TVZ, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 464-468.

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